Schulschluss: Berufsschulklassen sterben

18. März 2025
Foto: Adobe Stock/ CorriSeizinger

Im September 2024 wurde die einzige Berufsschulklasse für Friseure im Landkreis Tuttlingen geschlossen. Kein Einzelfall in Deutschland.

TEXT | Elke Reichenbach

Inhaltsübersicht

Miriam Jahke ist wütend und enttäuscht. Über zwei Jahre lang kämpft die Innungsobermeisterin um den Erhalt der einzigen Berufsschulklasse für Friseure im Landkreis Tuttlingen. In Kooperation mit Landrat, Landtagsabgeordneten, Landesinnungsverband und Handwerkskammer Konstanz versucht sie immer wieder, die geforderte Zahl von 16 Auszubildenden zu erreichen. Ausbildungsbotschafter in Schulen, verstärkte Präsenz bei Ausbildungsmessen und persönliche Werbung bei Kolleginnen und Kollegen im Landkreis reichen letztlich nicht aus.
Kleinstädte und Dörfer prägen das Gebiet im Alb-Donau-Raum. „Die meisten Salons sind Ein- bis Zwei-Mann-Unternehmen“, erläutert Miriam Jahke die Branchenstruktur. „Corona hat die kleinen Betriebe gebeutelt, die Rückzahlungsmodalitäten der Soforthilfe belasten sie zusätzlich. In solchen Zeiten scheuen die Salonbesitzer die zusätzliche Belastung durch Azubis.“

Innungsobermeisterin Miriam Jahke ist wütend und enttäuscht über den Verlust der Berufsschulklasse in Tuttlingen.

Foto: Alexandra Graf

Kultusministerium bleibt hart

Am Einschulungstag im September kommt von Kultusministerin Theresa Schopper um 11 Uhr das endgültige und sofortige Aus für die Berufsschulklasse. Die zwölf Auszubildenden werden auf die zwei Schulstandorte Radolfzell und Villingen-Schwenningen verteilt. Drei Jahre zuvor ist der erste Hinweis an das Landratsamt gegangen. Werden dreimal hintereinander nicht mindestens 16 Auszubildende gezählt, greift § 30 des Schulgesetzes. Der Ausbildungsstandort wird geschlossen. Darauf beruft sich Schopper in diesem Fall. „Die Verantwortlichen vor Ort hatten drei Jahre lang Zeit zu reagieren“, heißt es dazu in einer Stellungnahme aus dem Kultusministerium.

Kleinklasse abgelehnt

Die vorübergehende Fortführung einer Kleinklasse in Tuttlingen lehnt das Kultusministerium ebenfalls ab: Regierungspräsidien und Kultusministerium seien an gesetzliche Vorgaben der regionalen Schulentwicklung gebunden. Für die temporäre Einrichtung einer Kleinklasse gebe es keine rechtliche Grundlage, so Pressesprecher Florian Mader.
Miriam Jahke versteht das nicht. Der Lehrer sei da, die Schule bestens ausgestattet. Dann wäre Zeit gewesen, die Schüler*innen auf den Wechsel an eine andere Schule vorzubereiten und in Zusammenarbeit mit den Landkreisen zumutbare Transportmöglichkeiten mit Bus und Bahn auszutüfteln. Nun müssten die mit 16 Jahren noch sehr jungen Auszubildenden Wegstrecken von bis zu 90 Minuten und mehr auf sich nehmen, um ein- bis zweimal wöchentlich zur Schule zu gehen.

Ländliche Gegend ohne Friseur

Die Friseurunternehmerin fürchtet, dass die langen Wegstrecken junge Menschen wenig motivieren, die Ausbildung zu beenden oder gar erst damit anzufangen. „Wollen Sie, dass Ihre Tochter um 5:30 Uhr morgens am Bahnhof steht?“, fragt sie mehr rhetorisch. Was der Mangel an Auszubildenden in Konsequenz bedeutet, macht sie auch klar: „Bald haben wir keine Friseure mehr auf dem Land, dabei gelten wir seit Corona als systemrelevant.“
Besonders ärgert Jahke, dass die Berufsschulklasse in Villingen-Schwenningen durch den Zuwachs an Schüler*innen geteilt werden musste. Sie fragt sich, ob die Schulbezirke nicht anders hätten zugeschnitten werden können, um zwischen den Nachbarkreisen für Ausgleich zu sorgen. Doch das hätte der Zustimmung aller betroffenen Landkreise als Schulträger bedurft. Die andere angedachte Lösung, den Allgemeinunterricht von zwei Gewerken zu vereinen und mit einer sogenannten Klappklasse die Friseurausbildung vor Ort zu retten, scheiterte am passenden Partnerhandwerk.

Dirk Reisacher, Vorsitzender des Fachverbandes Friseur und Kosmetik, fordert übergeordnete Zusammenarbeit.

Foto: FFK Friseure Baden-Würtemberg

Präsidium setzt auf Qualität

Das zuständige Regierungspräsidium in Freiburg sieht zudem auch die negativen Seiten kleiner Einzelklassen. Die wohnortnahe Beschulung ist für Pressesprecherin Heike Spannagel wichtig. In die Waagschale gehört für sie aber auch eine hohe Qualität der Berufsschule mit modernster Ausstattung und Lehrkräften, die sich im Team austauschen, weiterbilden und vertreten können. Bei zu kleinen Klassen, die mit anderen Berufsschulklassen zusammen beschult würden, sei es wesentlich schwieriger, diese Qualität dann noch zu gewährleisten.

Zwei Gewerke in einer Klasse

Dirk Reisacher, Vorsitzender des Fachverbandes Friseur und Kosmetik Baden-Württemberg, hält eine gemeinsame Beschulung verschiedener Gewerke durchaus für eine gute Lösung, Berufsschulklassen in die Zukunft zu führen. Er verweist auf das Beispiel Biberach, wo Maler und Friseure gemeinsam die Schulbank drücken. Zur Entwicklung neuer Konzepte sei allerdings eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten nötig.
Im Regierungsbezirk Tübingen etwa habe eine Fachkonferenz zur regionalen Schulentwicklung im Friseurhandwerk zu mehr gegenseitigem Verständnis und neuen Lösungen geführt. Mit am Tisch saßen dort Vertreter*innen von Regierungspräsidium, Innungen, Handwerkskammern, Kreishandwerkerschaft, Schulträgern, Landkreisen, Schulleitungen und Fachbereichsleiter. Im Falle von Tuttlingen habe er diese übergreifende Zusammenarbeit vermisst. Das Engagement des Fachverbandes auf höchster politischer Ebene habe in diesem Fall leider auch nichts gebracht.
Tuttlingen ist kein Einzelfall. Überall im Bundesgebiet sinkt die Zahl der Berufsschulklassen für Friseur*innen. Betroffen sind vor allem Standorte im ländlichen Raum. So haben etwa die Berufsschulen in Mühlacker und in Balingen in Baden-Württemberg und im bayerischen Neustadt an der Aisch ihre Friseurklassen verloren. Betroffen sind aber auch Städte wie Aschaffenburg und Erlangen.

Raimund Kegel, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Konstanz, wirft dem Kultusministerium „Kaltherzigkeit“ vor.

Foto: Jana Seifried Hwk Konstanz

Bittere Enttäuschung

Raimund Kegel hält diesen Trend für katastrophal. Der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Konstanz, zuständig auch für Tuttlingen, hat an der Seite von Miriam Jahke eineinhalb Jahre um den Schulstandort gerungen. Er ist bitter enttäuscht von der „Kaltherzigkeit im Kultusministerium“ und versteht nicht, warum ein einjähriger Aufschub unmöglich war. Die Politiker*innen beklagten, dass 2,9 Millionen junge Menschen zwischen 16 und 29 Jahren ohne Ausbildung seien. Doch wo die Möglichkeit bestünde, etwas für Wirtschaft und Gesellschaft zu tun, werde nichts getan.

Wunschberuf für viele Mädchen

Kegel hat die Bedürfnisse der Jugendlichen genauso im Blick wie die gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Friseurberuf sei gerade für junge Mädchen mit Interesse an Mode und Kosmetik immer noch ein Wunschberuf. Im Friseurhandwerk spielten Schulnoten keine so große Rolle. Das komme vielen jungen Menschen entgegen.

Ohne Schule keine Azubis

Entsprechend wichtig sei es, die Berufsfelder interessant zu gestalten und die jungen Menschen zwischen 15 und 17 Jahren zu schützen, damit sie nicht ohne Ausbildung in Hilfsjobs abwanderten. „Sowohl Berufsschule als auch Ausbilder in den Betrieben leisten hier Erziehungsarbeit, die zu Hause oft nicht mehr so geboten wird. Wir legen deshalb großen Wert darauf, dass es in jedem Landkreis eine Friseurklasse gibt.“ Fahrzeiten von mehr als einer Stunde zu Arbeitsstelle oder Schule spielen bei vielen jungen Menschen eine Rolle bei der Berufswahl. Kegels Erfahrung: „Wenn die Berufsschule vor Ort weg ist, verschwinden auch die Auszubildenden.“

„Bildung als Investition in
die Zukunft“

Christian Hertlein, Vorsitzender des Berufsbildungsausschusses beim Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks (ZV), hält die Entwicklung für sehr unerfreulich. „Für junge Menschen ist ein Anfahrtsweg von über einer Stunde in die Berufsschule ein großer Nachteil. Das können die Betriebe auch nicht ignorieren.“ Problematisch sei, dass in den meisten Fällen Kommunen und Länder als Schulträger die Kosten für kleine Standorte nicht weiter tragen wollen. Hertlein weist darauf hin, dass auch in anderen Handwerksberufen Berufsschulklassen zusammengeführt oder geschlossen werden. „Bildung ist eine Investition in die Zukunft. Hier kann es für die Politik keine Ausreden geben.“

OPA-TAXI ZUR BERUFSSCHULE

Für Katie Merker begann die Ausbildung im vergangenen September mit einem Paukenschlag: Am ersten Schultag in Tuttlingen wird ihr eröffnet, dass die Berufsschulklasse geschlossen wird. Sofort. Die 16-Jährige muss ad hoc entscheiden, ob sie künftig nach Schwenningen oder Radolfzell in die Berufsschule geht. Merker entscheidet sich für Radolfzell. Der Unterricht beginnt um 7:50 Uhr. Um pünktlich zu sein, müsste die junge Frau um 5:38 Uhr in Neuhausen losfahren. Katie Merker hat mit ihrer Familie nach einer anderen Lösung gesucht und sie gefunden. Über den Winter fährt sie der Großvater mit dem Auto und holt sie auch wieder ab. Langfristig tüfteln sie an einer Mischung aus Opa-Taxi und öffentlichem Nahverkehr. Damit wollen sie auch die Kosten senken. Der Salon bezahlt ihr für den Weg zur Arbeit 50 Euro monatlich, die Eltern berappen 30 Euro, und der Opa legt die insgesamt 120 Kilometer Wegstrecke gratis zurück. Es wäre leichter gegangen – doch ihre Ausbildung will sich die junge Frau dennoch nicht vermiesen lassen.

Christian Hertlein, Vorsitzender des Berufsbildungsausschusses beim Zentralverband des Deutschen Friseurhandwerks (ZV), sieht die Politik am Zug.

Foto: ZV Friseurhandwerk

Katie Merker hat Glück: Ihr Opa fährt sie zur Schule.


Foto: privat